Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) hat kürzlich alarmierende Zahlen veröffentlicht: Drei von vier Privatanlegern, die zwischen 2019 und 2023 in sogenannte Turbozertifikate investierten, verloren Geld – im Schnitt rund 6.400 Euro pro Kopf. Insgesamt summierten sich die Verluste auf 3,4 Milliarden Euro. Doch so erschütternd diese Bilanz ist – sie ist nur die Spitze eines viel tiefer liegenden Problems: der systematische Vertrieb komplexer Finanzprodukte an Menschen, die sie kaum verstehen können.

Komplexität trifft auf geringe Finanzbildung

Zertifikate sind strukturierte Wertpapiere, deren Wertentwicklung meist an einen Basiswert (z. B. eine Aktie oder einen Index) gekoppelt ist – teils mit Hebelwirkung, teils mit Bedingungen zur vorzeitigen Rückzahlung, teils mit Barrieren oder Knock-out-Schwellen. Selbst viele gut ausgebildete Akademiker tun sich schwer, die Funktionsweise solcher Konstruktionen zu durchdringen. Umso besorgniserregender ist es, dass solche Produkte häufig an Laien verkauft werden – an Menschen, die weder volkswirtschaftlich noch mathematisch geschult sind und oft nicht erkennen können, dass sie gerade auf eine Preisbewegung innerhalb weniger Stunden oder Tage wetten.

Die BaFin hat nun reagiert: Sie kündigt Eignungstests für Käufer und einheitliche Mindeststandards bei der Aufklärung an. Doch diese Maßnahmen kommen spät – und sie greifen zu kurz. Denn sie übersehen ein strukturelles Dilemma: Wer ein Produkt nicht versteht, kann auch schwerlich seine Eignung dafür beweisen.

Der Vertriebsdruck ist das eigentliche Problem

Verbraucherschützer kritisieren seit Jahren, dass Banken und Sparkassen ihre eigenen Interessen über die ihrer Kunden stellen. In Zeiten niedriger Zinsen wurden strukturierte Produkte oft als Alternative zu Tagesgeld oder Bundesanleihen verkauft – nicht, weil sie besser für die Kunden geeignet gewesen wären, sondern weil sie den Instituten hohe Vertriebsprovisionen bescherten. Besonders pikant: Auch hochbetagten Kunden oder sicherheitsorientierten Anlegern wurden diese Konstrukte untergeschoben – mit Folgen, die man erst Jahre später in Rentenbescheiden oder Steuererklärungen sieht.

Dass die BaFin in ihrer Untersuchung zu Zins- und Expresszertifikaten „keine systematischen und gravierenden Mängel“ feststellt, wirkt fast zynisch – zumal sich diese Einschätzung auf eine äußerst dünne Datenbasis stützt: Nur 29 Kunden nahmen an einer Befragung teil, 20 Testkäufe wurden durchgeführt. Wer auf so schmaler Grundlage Marktstandards beurteilt, untergräbt das Vertrauen in die Aufsicht.

Anleger müssen geschützt werden – auch vor sich selbst

Natürlich trägt jeder Anleger eine Mitverantwortung für seine Entscheidungen. Doch in einem Markt, in dem die Informationsasymmetrien so groß sind wie bei strukturierten Wertpapieren, reicht Aufklärung allein nicht aus. Wenn 70 % der Turbozertifikate nur einen Tag gehalten werden, dann hat das nichts mit langfristiger Vermögensplanung zu tun – sondern mit spekulativer Zockerei.

Anleger brauchen keine Derivate mit Barrierebedingungen, sondern solide, transparente Produkte: günstige ETFs, deutsche Staatsanleihen oder Sparpläne mit echter Diversifikation. Es ist nicht einzusehen, warum Banken lieber Knock-out-Produkte mit gigantischem Risiko verkaufen als robuste Altersvorsorgeinstrumente – außer, dass sie an Ersterem besser verdienen.

Fazit: Zertifikate gehören nicht in Laienhände

Wer Finanzprodukte entwickelt, die selbst viele Berater kaum erklären können, handelt verantwortungslos, wenn er sie an Kleinanleger vertreibt. Die BaFin täte gut daran, nicht nur bei Turbozertifikaten regulierend einzugreifen, sondern den gesamten Markt für strukturierte Produkte kritisch zu überprüfen. Transparenz, Einfachheit und Kundennutzen müssen wieder zum Maßstab werden – nicht Vertriebserfolg und Emissionsvolumen.

Denn die nächste Zertifikatewelle kommt bestimmt – und mit ihr neue Verluste, wenn sich an der Praxis nichts ändert.