Essay: Die Kunst, den Zufall zu beherrschen
Europa liebt die Ordnung, die Planung, das Regelwerk, das Sicherheit verspricht in einer großen, unübersichtlichen Welt. In den Schaltzentralen der Wirtschaft wie in den Amtsstuben der Ministerien herrscht dieselbe leise Sehnsucht: bitte keine Überraschungen. Und doch wird dieser Kontinent immer wieder überrascht – von Krisen, die schwerwiegend sind und teilweise vorhersehbar waren.
Ob Gasabhängigkeit, Chip-Knappheit oder Lieferkettenkollaps: Immer zeigt sich dasselbe Muster. Erst, wenn der Sturm da ist, beginnen die Analysen. Man konstatiert betroffen „systemische Abhängigkeiten“, schreibt Berichte, gründet Taskforces, beschließt Subventionen. Kaum legt sich der Wind, kehrt man zurück zum Alten – als sei nichts geschehen. Europas ökonomisches System gleicht einem Kapitän, der den Kompass erst studiert, wenn das Schiff schon im Nebel steckt.
Die Lehre, die nie gelernt wird
Die Autoindustrie steht dafür exemplarisch. Noch 2021 erklärte man stolz, man habe aus der Pandemie gelernt: mehr Vorräte, mehr Zulieferer, mehr lokale Fertigung. 2025 zeigt sich: Nichts davon wurde dauerhaft umgesetzt. Die Just-in-Time-Doktrin, die heilige Effizienz, war zu verlockend. Lagerhaltung kostet, Diversifizierung verkompliziert, und Krisenvorsorge sieht in Quartalsberichten immer schlecht aus.
So fährt man in Wolfsburg oder Stuttgart mit neuen Sparprogrammen in die Zukunft und verwechselt Vorsicht mit Weitsicht. Wer heute von Risikomanagement spricht, meint meist Schadensbegrenzung, nicht Zukunftsvorsorge. Dabei ist genau das die Lehre, die Europa nie gelernt hat: Risiken sind keine Abweichung von der Normalität – sie sind die Normalität.
Arbeiten mit dem Worst Case
Die wahre Herausforderung liegt darin, den Worst Case nicht zu verdrängen, sondern die Möglichkeit dafür richtig wahrzunehmen. Seit vielen Jahren wird in diesem Zusammenhang über Resilienz gesprochen; Resilienz heißt nicht nur, Katastrophen zu vermeiden, sondern Strukturen zu schaffen, die auch dann funktionieren, wenn sie eintreten. Wer immer nur vom besten Fall ausgeht – stabile Märkte, offene Lieferketten, verlässliche Partner – verliert jede Anpassungsfähigkeit.
Das bedeutet: Die Produktion läuft auch dann weiter, wenn der Chip ausbleibt. Die Energieversorgung hält, wenn Gas ausbleibt – das hat Konsequenzen für Logistik, Planung und Prozessgestaltung im Unternehmen.
Viele Unternehmen verwechseln Optimismus mit Strategie. Doch Zukunftsvorsorge entsteht nicht aus Hoffnung, sondern aus der Annahme, dass alles schiefgehen kann. Erst dann wird Planung ernsthaft.
Die Möglichkeiten der Simulation und der Bandbreitenplanung müssen genutzt werden, um ein realistisches Bild der Zukunft zu entwerfen. Moderne Modelle können mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz ganze Liefer- und Wertschöpfungsketten virtuell abbilden, Risiken durchspielen und deren Wechselwirkungen sichtbar machen.
KI ersetzt kein Managementurteil – aber sie erweitert den Horizont. Sie erlaubt, das Denken im Worst Case zu üben, ohne ihn erleben zu müssen. So wird Planung nicht zur Vertröstung auf bessere Zeiten, sondern zur Erprobung der Zukunft.
Dies Planungsinstrumente erzeugen keine Gewissheit, aber sie schaffen Wahrscheinlichkeitsräume, in denen sich Risiken sichtbar machen und strategische Entscheidungen simulieren lassen.
Simulation ersetzt das Bauchgefühl nicht, sie macht es überprüfbar. Sie verwandelt das, was früher Intuition hieß, in nachvollziehbare Szenarien. So kann ein Unternehmen nicht nur den besten, sondern auch den zweit- und drittschlechtesten Fall durchdenken – und vorbereitet bleiben, wenn einer davon Wirklichkeit wird. Entsprechend kann auch eine Investitionsplanung in den Cash-flow-Planungen realistischer werden, anstatt nur Risikoaufschläge für den Kalkulationszins zu berechnen.
Bandbreitenplanung ist keine Spielerei von Datenanalysten, sondern ein bedeutendes Zahnrad der ökonomischen Vernunft: die Einsicht, dass Zukunft nicht punktgenau prognostizierbar ist, sondern schwankt – und dass gerade dies die Grundlage jeder soliden Entscheidung bildet.
Künstliche Intelligenz wird damit zum Werkzeug einer neuen Nüchternheit. Sie erlaubt, das Denken im Worst Case zu üben, ohne ihn erleben zu müssen. Sie macht Planung wieder zu dem, was sie sein sollte: nicht die Illusion von Kontrolle, sondern die Erprobung der Zukunft in Ungewissheit.
Die falsche Angst
Bezogen auf die vorherrschende Angst: es gibt die Angst vor Fehlern, nicht die vor Untätigkeit. Angst, etwas Falsches zu entscheiden – nicht davor, gar nichts zu entscheiden.
So wird Risikomanagement zur Verwaltung des Status quo. Doch echte Risikoanalyse verlangt das Gegenteil: Mut zum Szenario, Mut zur Annahme, dass das Unwahrscheinliche morgen eintreten könnte.
Ein Konzern wie Volkswagen oder ein Staat wie Deutschland hätte sich öfters fragen können: Was, wenn China morgen seine Exporte seltener Erden stoppt? Was, wenn ein Präsident Trump Zölle von 50 Prozent erhebt? Was, wenn Lieferketten durch den Klimawandel dauerhaft instabil werden? – Die Antworten wären unbequem. Aber sie wären Vorsorge statt Nachsorge.
Das Nachdenken über den Zufall
Vielleicht beginnt alles mit einem neuen Verhältnis zum Zufall. Europa hat sich daran gewöhnt, dass alles planbar ist: Wachstum, Strompreis, Lieferzeit. Doch die Zukunft ist kein Excel-Sheet. Sie ist ein Raum von Möglichkeiten, in dem Unerwartetes geschieht.
Risikomanagement heißt, das Unwahrscheinliche mitzudenken – nicht es zu verdrängen.
Wer lernt, auch im Worst Case zu leben, wird nicht pessimistischer, sondern realistischer. Er handelt nicht aus Angst, sondern aus Klarheit.
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