Deutschland ist jetzt offiziell der größte Gläubiger der Welt. Diese Nachricht mag überraschen – besonders in einer Zeit, in der die deutsche Wirtschaft schwächelt, Investitionen stocken und das Wachstum stagniert. Laut aktuellen Zahlen hat die Bundesrepublik Ende 2024 13,9 Billionen Euro an Auslandsforderungen aufgebaut – bei 10,4 Billionen Euro Verbindlichkeiten gegenüber dem Ausland. Der Netto-Auslandsvermögenssaldo beträgt damit rund 3,5 Billionen Euro, das entspricht etwa 81 % der deutschen Wirtschaftsleistung. Damit löst Deutschland nach 34 Jahren Japan als Spitzenreiter ab.

Ein scheinbarer Widerspruch

Wie kann es sein, dass ein Land, das wirtschaftlich als zunehmend träge wahrgenommen wird, mehr Geld in der Welt angelegt hat als jede andere Nation? Was zunächst paradox klingt, ist das Ergebnis einer langfristigen Entwicklung, die tief in der Struktur der deutschen Wirtschaft und Finanzkultur verwurzelt ist.

Ein Land gilt als Netto-Gläubiger, wenn es mehr Forderungen gegenüber dem Ausland besitzt (z. B. über Anleihen, Direktinvestitionen oder Einlagen), als es selbst Verbindlichkeiten hat. Die Differenz ist das Netto-Auslandsvermögen – in Deutschland beträgt es über 3,5 Billionen Euro.¹

Einordnung: Zum Vergleich – Japan liegt mit etwa 3,3 Billionen Euro knapp dahinter, die Schweiz bei rund 1,6 Billionen Euro, China bei rund 1,4 Billionen (Zahlen 2024, Quellen: IMF, Bundesbank, MOF Japan).

Schwäche im Inland, Stärke im Ausland

Gleichzeitig zeigt sich eine deutliche wirtschaftliche Schwäche im Inland. Das Bruttoinlandsprodukt stagnierte 2023/24. Hohe Energiepreise, strukturelle Bürokratieprobleme, Fachkräftemangel und geopolitische Unsicherheiten belasten das Wachstum. Das Investitionsklima ist eingetrübt, viele Unternehmen verschieben Projekte, Konsumenten sparen, und der Staat kämpft mit engen Haushaltsgrenzen.²

Wie passt das zusammen? Die Erklärung liegt in der  Außenwirtschaft Deutschlands. Seit Jahrzehnten erzielt Deutschland anhaltende Leistungsbilanzüberschüsse: Es exportiert deutlich mehr als es importiert. Diese Überschüsse – also die erwirtschafteten Devisen – werden nicht im Inland investiert, sondern fließen in den globalen Kapitalmarkt: in Staatsanleihen, Aktien oder Direktbeteiligungen.³ Über die Jahre haben sich so gewaltige Auslandsforderungen aufgebaut.

Wer das Geld anlegt – und warum

Dabei handelt es sich nicht um eine koordinierte Strategie, sondern um das Ergebnis vieler einzelner Akteure: Versicherungen, Pensionskassen, Banken, große Konzerne, vermögende Privathaushalte – und nicht zuletzt die Bundesbank über das europäische Zahlungsbilanzsystem „Target2“.⁴ (Hinweis: Target2-Salden spiegeln zentraleuropäische Zahlungsströme wider, sind bilanziell aber Auslandsforderungen.)

Die Motivation dahinter: Sicherheit, Liquidität und Rendite. Da viele inländische Investitionen als zu bürokratisch, renditeschwach oder politisch risikobehaftet gelten, fließt Kapital ins Ausland – oft in US-Staatsanleihen, internationale Fonds oder Real Assets.

Risiken der Gläubigerrolle

Was auf den ersten Blick nach wirtschaftlicher Stärke aussieht, birgt erhebliche Risiken. Ein großer Teil des deutschen Auslandsvermögens steckt in Staatsanleihen hochverschuldeter Länder – allen voran den USA. Dort steigt die Neuverschuldung rapide, während politische Risiken zunehmen: protektionistische Maßnahmen, Sanktionen gegen ausländische Anleger, instabile Haushaltslagen.⁵  Gleichzeitig besteht ein nicht zu unterschätzendes Währungsrisiko, vor allem gegenüber dem Dollar.

Wenn Anleger Vertrauen verlieren, kann es schnell zu Wertverlusten kommen – und das vermeintlich solide Gläubigervermögen schmilzt dahin. Die Erfahrungen aus den frühen 2000er-Jahren mit deutschen Medienfonds sind eine Mahnung: Auch vermeintlich „sichere“ Auslandsanlagen können sich als Illusion erweisen.

Warum nicht mehr im Inland investieren?

Warum also investiert Deutschland nicht stärker in das eigene Land? Die Antworten sind vielschichtig: Die Schuldenbremse begrenzte staatliche Handlungsspielräume in der Vergangenheit sehr stark. Genehmigungsverfahren dauern Jahre. Große Infrastrukturprojekte scheiterten häufig an Detailauflagen oder Bürgerprotesten. Das soll sich ja mit der neuen Bundesregierung ändern – die Schuldenbremse wurde gelockert, ein großer Infrastrukturfonds auf den Weg gebracht.  Und: Die globale Finanzwelt bietet vielen Anlegern eine schnellere und oft lukrativere Alternative.⁶

Zudem fehlt ein strategischer Rahmen für privatwirtschaftlich ko-finanzierte Investitionsprojekte – viele Mittel „parken“ daher im Ausland, anstatt die eigene Wettbewerbsfähigkeit zu stärken.

Ein Blick nach Japan – und nach vorn

Ein Blick nach Japan zeigt: Auch dort wurde trotz jahrzehntelanger Wirtschaftsflaute ein riesiger Auslandsvermögensbestand aufgebaut. Doch dieser Status bedeutete weder Wohlstand für alle noch wirtschaftliche Dynamik – im Gegenteil. Die Kapitalexporte waren eher ein Symptom der Schwäche als eine Ausdrucksform von Stärke.⁷

Fazit: Kapitalmacht ohne Wirtschaftsdynamik?

Deutschlands Gläubigerrolle ist nicht das Resultat einer wirtschaftlichen Erfolgsgeschichte der Gegenwart, sondern das Vermächtnis vergangener Exportüberschüsse und einer investitionsarmen Binnenpolitik. Diese Diskrepanz zwischen äußerem Reichtum und innerer Investitionsschwäche sollte Anlass zum Nachdenken sein.


¹ Deutsche Bundesbank, Statistik zur Zahlungsbilanz und zum Auslandsvermögen, März 2025 – https://www.bundesbank.de
² ifo Institut, Konjunkturprognose Frühjahr 2025https://www.ifo.de
³ Statistisches Bundesamt / Destatis, Leistungsbilanzsaldo Deutschland, 2000–2024https://www.destatis.de; sowie: IMF, World Economic Outlook Database 2024https://www.imf.org
⁴ Deutsche Bundesbank, Finanzstabilitätsbericht 2024, Kapitel „Kapitalströme und Gläubigerpositionen“ – https://www.bundesbank.de
⁵ Bloomberg, Germany Overtakes Japan as World’s Biggest Creditor, Mai 2025 – https://www.bloomberg.com/news/articles/2025-05-27/germany-overtakes-japan-as-largest-creditor; Reuters, Japan loses creditor crown to Germany after 34 yearshttps://www.reuters.com/markets/europe/japan-net-external-assets-hit-record-surrenders-worlds-top-creditor-spot-2025-05-27/
⁶ Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten 2024/25https://www.sachverstaendigenrat-wirtschaft.de
⁷ Ministry of Finance Japan, International Investment Position 2024https://www.mof.go.jp/english