In der europäischen Versicherungswirtschaft beginnt ein vorsichtiger Wandel. Fusionen wie die zwischen Helvetia und Baloise in der Schweiz oder Barmenia und Gothaer in Deutschland deuten darauf hin, dass sich Unternehmen zusammenschließen, um effizienter zu werden und dem steigenden Wettbewerbsdruck zu begegnen. Auch in Deutschland wird über weitere Zusammenschlüsse verhandelt – ein notwendiger Schritt in einem fragmentierten Markt mit teils überlappenden Strukturen und hohen Fixkosten.

Doch über organisatorische Maßnahmen hinaus steht die Branche vor einer weitaus größeren Herausforderung: der digitalen Transformation. Während andere Teile der Finanzwirtschaft längst Plattformstrategien verfolgen und mit datenbasierten Geschäftsmodellen experimentieren, bleiben viele Versicherungsunternehmen in alten Strukturen verhaftet. Laut der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) bestehen in zahlreichen Häusern noch immer „schwerwiegende Mängel bei den IT-Systemen“¹ – ein Problem, das durch den steigenden Digitalisierungsdruck und die Erwartungen der Kundinnen und Kunden weiter verschärft wird.

Kundinnen und Kunden sind heute andere Standards gewohnt: Sofortige Antworten, digitale Bearbeitung und Transparenz gehören in vielen Branchen längst zum Alltag. In der Versicherungswirtschaft hingegen kann die Bearbeitung eines einfachen Schadensfalles noch immer Wochen dauern. Die Folge: Das Vertrauen in klassische Versicherungsprodukte schwindet. Die Entwicklung der Lebensversicherungsprämien ist ein Indikator dafür. Zwischen 2015 und 2024 stieg das Beitragsvolumen laut GDV nur von 88 auf 94 Milliarden Euro² – ein Plus von gerade einmal 6,8 %. Im gleichen Zeitraum stieg das Sparvolumen privater Haushalte laut Bundesbank um 59 %³ – allerdings nicht über Versicherungsprodukte.

Hinzu kommt: Der Markt ist zersplittert. In Deutschland gibt es über 70 Versicherungsunternehmen mit Prämieneinnahmen über 50 Millionen Euro – 49 davon kommen auf weniger als ein Prozent Marktanteil⁴. Trotzdem unterhält jedes Unternehmen eigene Rechts-, Vertriebs- und IT-Abteilungen. Allein im Vertrieb sind rund 181.000 Vermittler aktiv – im Vergleich: Frankreich kommt mit rund 64.000 aus, die Niederlande mit nur 7.000⁵.

Diese Struktur erzeugt hohe Kosten, die sich negativ auf die Rendite der Produkte und die Prämienhöhe auswirken. Laut BaFin fließen allein in der Lebensversicherung jährlich rund 8 Milliarden Euro an Provisionen an Makler, Vertreter und Banken⁶. Der Anteil der Prämien, der tatsächlich bei den Kunden in Form von Leistungen ankommt, liegt in vielen Bereichen unter 50 %.

Darüber hinaus sind viele Versicherungsunternehmen technologisch nicht ausreichend aufgestellt, um mit der Dynamik der Internetökonomie Schritt zu halten. Während Kundinnen und Kunden längst auf Vergleichsportale, KI-gestützte Chatbots und automatisierte Vertragsverwaltung setzen, fehlt es vielen Anbietern an flexiblen, modularen Produkten, die sich an veränderte Lebenssituationen anpassen lassen.

Auch größere Unternehmen wie Allianz, Ergo oder Zurich stehen unter Druck. Trotz einzelner Digitalinitiativen (z. B. Allianz Direct) ist bisher kein umfassendes digitales Geschäftsmodell erkennbar, das nachhaltig neue Kundengruppen anspricht. Die hohen Dividendenzahlungen – wie zuletzt bei der Allianz mit über sechs Milliarden Euro⁷ – beruhen weniger auf Wachstum als auf Kapitaleffizienz und Investorenpflege.

Um langfristig relevant zu bleiben, braucht die Branche mehr als Fusionen und Kostensenkungen. Sie muss das Potenzial der Digitalisierung strategisch erschließen: durch automatisierte Prozesse, transparente Verträge, flexible Tarife und eine stärkere Orientierung an Kundenbedürfnissen. Nur so lässt sich das Vertrauen in die Versicherungswirtschaft zurückgewinnen – und eine Brücke in die digitale Zukunft schlagen.


Fußnoten / Quellen:

  1. BaFin: Versicherungsaufsichtliche Schwerpunkte 2024, S. 6–8.
  2. Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV): Statistik Lebensversicherung 2024.
  3. Deutsche Bundesbank: Sektorale Vermögensbildung der privaten Haushalte, Stand: März 2024.
  4. BaFin: Versicherungsaufsicht 2023 – Bericht zur Lage, S. 12.
  5. OECD & Insurance Europe: Insurance Distribution Statistics, 2023.
  6. BaFin: Transparenz in der Lebensversicherung – Marktanalyse 2023, S. 4.
  7. Allianz SE: Geschäftsbericht 2023, S. 15 ff.