Neustart für die private Altersvorsorge?
Es ist ein politischer Neustart, der lange angekündigt war und nun konkret wird: Die Bundesregierung will die private Altersvorsorge reformieren und damit einen Scherbenhaufen zusammenkehren, der jahrzehntelang ignoriert wurde. Die Riester-Rente war kein „kleiner Fehler“ der Politik, sie war ein struktureller Irrtum: unflexibel, teuer, intransparent. Ein Produkt, das seinen Zweck – Vermögensbildung und Alterssicherheit – für Millionen Menschen verfehlte. Die neue Reform verspricht nun, alles besser zu machen: mehr Kapitalmarkt, weniger Bürokratie, klarere Angebote, höhere Renditen. Doch hinter den klaren Botschaften steht eine komplexe Wirklichkeit – eine, die viele Fragen offenlässt und nicht wenige Risiken verschweigt.
Zunächst ist der politische Impuls sinnvoll: Wenn die gesetzliche Rente strukturell unter Druck steht, dann führt an Kapitaldeckung kein Weg vorbei. Andere Länder – Kanada, Australien, Schweden – zeigen seit Jahren, wie Kapitalmärkte Alterseinkommen stabilisieren können. Deutschland dagegen blieb im 20. Jahrhundert stecken, in Umlagefinanzierung, Beitragsbürokratien und einer öffentlichen Debatte, die Aktien bis heute als spekulatives Randphänomen betrachtet. Dass die Regierung nun aktienbasierte Vorsorge zulässt oder sogar fordert, ist überfällig.
Doch der Reformtext trägt auch die typische deutsche Handschrift: Sicherheitserwartung trifft Garantiebedürfnis, und genau darin liegt das Systemproblem. Die neuen Produkte mit 100- oder 80-Prozent-Garantie erlauben zwar mehr Kapitalmarkt, aber sie begrenzen ihn zugleich. Wer Garantien verlangt, begrenzt Rendite – und das passiert nicht am Rand, sondern im Kern des Modells. Versicherer müssen Garantien bilanziell absichern: durch konservative Portfolios, durch strenge Risikolimits, durch teure Reserven. Die Reform erweckt den Eindruck, dass Rendite künftig quasi automatisch entsteht. Doch Garantien und Rendite verhalten sich wie Bremsen und Gas – beides gleichzeitig geht nicht.
Das neue Altersvorsorge-Depot ohne Garantie ist deshalb ein wichtiger Schritt. Es schafft erstmals etwas, das nach internationalem Standard klingt: ein standardisiertes, kostengedeckeltes Depotprodukt. Aber hier beginnt das zweite Problem der Reform: Die gesetzte Gebührenobergrenze von 1,5 % wirkt politisch vernünftig, ist aber kapitalmarktökonomisch fragwürdig. Wer langfristig Vermögen aufbaut, weiß, dass Gebühren mehr Rendite zerstören als jede einzelne Krise. Im ETF-Segment sind 0,1–0,25 % üblich. Bei 1,5 % stehen wir im internationalen Vergleich am oberen Ende. Die Reform bevorzugt Anbieter, nicht Sparer.
Dazu kommt die Förderlogik. Sie klingt auf dem Papier modern: 30 Cent Zuschuss pro eingezahltem Euro bis 1.200 € jährlich, dann 20 Cent bis 1.800 €, dazu Zulagen für Kinder und junge Sparer. Doch die Architektur bleibt altbekannt: kompliziert, erklärungsintensiv, regressiv. Menschen mit geringer Sparfähigkeit profitieren relativ wenig. Haushalte, die ohnehin sparen, erhalten mehr Förderung. Der Staat verspricht „Vorsorge für alle“, baut aber erneut eine Fördermaschine für jene, die bereits im System stehen. Gerade im unteren Einkommensbereich wird das Grundproblem nicht gelöst: Die meisten Menschen haben kein Vorsorgeproblem, weil sie nicht wollen – sie haben eines, weil sie nicht können.
Nebenbei präsentiert die Politik ein symbolträchtiges Nebenprojekt: die „Frühstart-Rente“. Für jedes Kind zahlt der Staat zehn Euro monatlich in ein Depot, über mindestens zwölf Jahre. Es ist ein netter Gedanke, aber ökonomisch ohne Relevanz. Eine dreistellige Summe am Ende der Laufzeit ist kein Baustein für Alterssicherung. Es ist ein politisches Motivationssignal, aber kein Instrument der Vermögensbildung.
Und dann ist da noch die deutsche Antragsbürokratie – der vielleicht entscheidende Faktor. Selbst hervorragende Vorsorgesysteme wirken nur dann, wenn sie Zugangshürden minimieren. Genau an dieser Stelle hat Riester versagt. Millionen Anspruchsberechtigte verloren Förderansprüche durch formale Fehler, vergessene Fristen, nicht eingereichte Dokumente oder wechselnde Einkommenssituationen. Anbieter führten Listen, Kunden kämpften mit Formularen, Zulagenstellen kontrollierten, korrigierten, kürzten. Die Folge: Frustration, Intransparenz, Fehlanreize. Tragisch ist, dass die neue Reform daran wenig ändert. Der Fördermechanismus bleibt kompliziert – und wo Förderlogik kompliziert bleibt, entsteht Bürokratie. Statt automatisierter Abwicklung, digitaler Schnittstellen und klarer Prozesse entsteht erneut ein System, das „Vorsorge“ mit administrativem Aufwand verknüpft. In Ländern wie Schweden oder Australien funktioniert Altersvorsorge deshalb so gut, weil sie weitgehend ohne Antragslogik auskommt: Ein Standardprodukt, ein Beitrag, eine Plattform. In Deutschland dagegen gilt weiterhin: Wer sparen will, muss erst einmal verstehen, wie man es beantragt. Und genau das ist für breite Bevölkerungsschichten die größte Hürde – weit größer als Renditeschwankungen oder Marktvolatilität.
Positiv ist die geplante Rentenkommission, die gesetzliche, betriebliche und private Vorsorge gemeinsam betrachten soll. Das wäre dringend notwendig, denn die Krise der Altersvorsorge entsteht nicht isoliert im dritten Pfeiler. Sie entsteht durch Demografie, niedrige Produktivitätszuwächse, stagnierende Reallöhne und einen Kapitalstock, der im internationalen Vergleich klein ist. Private Vorsorge kann diese Lücke lindern, aber nicht schließen. Kapitalmärkte sind kein magisches Gegenmittel gegen demografischen Wandel. Sie verschieben Risiken – und kapitalisieren Hoffnung.
In der Summe bleibt ein gemischtes Bild. Die Reform wird Bewegung bringen: Sie macht Kapitalmarktanlagen sichtbar, schafft einheitlichere Produkte und öffnet Türen für eine neue Vorsorgekultur. Aber sie löst grundlegende Probleme nicht. Sie arbeitet an der Oberfläche eines Systems, das tiefgreifende strukturelle Fragen aufwirft: Wer trägt Risiko? Wer profitiert? Wer versteht, was er unterschreibt? Wer hat überhaupt die Möglichkeit, zu sparen? Und ganz zentral: Wer findet sich im Fördersystem wieder – und wer scheitert schon am Antrag?
Wenn die private Altersvorsorge künftig erfolgreicher sein soll als das Riester-System, dann braucht sie vier Dinge, die in diesem Entwurf fehlen: radikale Einfachheit, echte Gebührentransparenz, realistische Risikoaufklärung und ein konsequentes Bekenntnis zur Vermögensbildung als gesellschaftliche Aufgabe – nicht als Einzelprojekt des Finanzmarkts. Genau daran entscheidet sich, ob der Neustart Substanz hat oder nur ein weiterer politischer Versuch bleibt, Zeit zu gewinnen.
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