In der Corona-Pandemie wurde deutlich, wie stark die deutsche Verwaltung in vielen Bereichen noch im Analogen verhaftet ist. Gesundheitsämter, die Infektionsketten mit Faxgeräten und Papierakten dokumentieren mussten, wurden zum Symbol dieser Rückständigkeit. Die Bundesregierung reagierte mit einem groß angelegten Förderprogramm: 800 Millionen Euro aus EU-Mitteln stellte das Bundesgesundheitsministerium (BMG) für die Digitalisierung der rund 400 Gesundheitsämter bereit. 600 Millionen davon wurden ausgezahlt.

Doch statt eines vernetzten Systems mit einheitlichen Datenstandards ist ein fragmentiertes Geflecht von Einzellösungen entstanden. Die beabsichtigte Modernisierung droht in weiten Teilen zu verpuffen – teuer, unkoordiniert und kaum zukunftsfähig.


Kein gemeinsames Zielbild, keine einheitliche Struktur

Zwar wurden vielerorts neue Hard- und Softwarelösungen beschafft oder entwickelt, doch fehlte es an zentralen Vorgaben: Standardisierte Schnittstellen, einheitliche Datenmodelle oder verbindliche Mindestanforderungen an Interoperabilität wurden nicht eingefordert.
Das Resultat: Nach Ablauf der Förderphase werden bundesweit mindestens neun zentrale Softwarelösungen im Einsatz sein, die ähnliche Funktionen erfüllen – aber untereinander nicht kompatibel sind. Selbst innerhalb einzelner Bundesländer gibt es keine einheitliche Linie: In Niedersachsen etwa nutzen Gesundheitsämter künftig mindestens fünf verschiedene Anwendungen für vergleichbare Aufgaben.

In Hessen entwickelt das Gesundheitsamt Frankfurt mit einem Team von 60 Entwickler:innen eine eigene Lösung für rund 24 Millionen Euro. Baden-Württemberg lässt eine nahezu identische Software kommerziell entwickeln – für 54 Millionen Euro. Thüringen investiert weitere 4,3 Millionen in ein ähnliches Projekt. Andere Länder wiederum kaufen bestehende kommerzielle Produkte neu ein oder modifizieren vorhandene Systeme – ebenfalls mit erheblichem Mitteleinsatz.


Ursachen: Zeitdruck, Ausschreibungsfehler, strukturelle Zersplitterung

Die Gründe für diese Entwicklung sind vielschichtig:

  • Die Ausschreibungsfrist betrug nur acht Wochen – zu einer Zeit, als die Gesundheitsämter noch stark durch die Pandemie belastet waren. Eine koordinierte Abstimmung war unter diesen Bedingungen kaum möglich.
  • Das BMG verzichtete bei der Fördervergabe auf zentrale Vorgaben zur Standardisierung, etwa einheitliche Datenformate oder technische Mindestanforderungen für Schnittstellen.
  • Die föderale Struktur des Gesundheitswesens wurde nicht durch eine übergeordnete Governance ergänzt. Es gab keine koordinierende Instanz, die den Prozess strategisch hätte begleiten oder lenken können.

Das Ministerium rechtfertigt die dezentrale Ausgestaltung mit der „Aufgabenpluralität“ der Gesundheitsämter – also der unterschiedlichen inhaltlichen Ausrichtung von Amt zu Amt. Diese Heterogenität ist zwar real, doch sie ließe sich mit modularen Softwarearchitekturen abbilden, wie sie etwa in Frankfurt erarbeitet werden: Ein System mit anpassbaren Funktionsbausteinen, offen lizenziert und übertragbar.


Folgen: Dateninseln, Analyseprobleme, ineffiziente Strukturen

Die Auswirkungen sind bereits heute spürbar – und könnten bei künftigen Gesundheitskrisen gravierend werden. Wie die Epidemiologin Brigitte Strahwald von der LMU München berichtet, war es in einem Forschungsprojekt kaum möglich, verlässliche Aussagen über Meldeverzögerungen bei Infektionszahlen zu treffen. Datenbankformate änderten sich mehrfach, Parameter wurden unterschiedlich benannt, Standards fehlten.

Einheitlich strukturiertes Datenmaterial, das schnelle, evidenzbasierte Entscheidungen ermöglicht, bleibt also Mangelware. Eine Ausnahme bilden lediglich die Infektionszahlen, die über ein standardisiertes Meldeverfahren an das Robert Koch-Institut übermittelt werden – alle anderen Daten verbleiben in isolierten Strukturen. Auch die gemeinsame Forschung wird dadurch erschwert oder ganz verhindert.


Lichtblicke: Open-Source-Initiativen und Länderkooperationen

Einige wenige Länder – darunter Bayern, Berlin und Brandenburg – planen, die in Frankfurt entwickelte Open-Source-Lösung zu übernehmen. Damit zeigen sie, dass technische Harmonisierung über Ländergrenzen hinweg möglich ist, ohne die föderale Aufgabenverteilung aufzugeben. Das Frankfurter Modell basiert auf einem modularen Aufbau, lässt sich flexibel an unterschiedliche Anforderungen anpassen und steht allen Gesundheitsämtern kostenlos zur Verfügung.

Doch diese Ansätze bleiben bisher die Ausnahme. Für die Mehrheit der Projekte gilt: Eine umfassende Nachnutzung ist weder vorgesehen noch möglich – jede Lösung ist weitgehend proprietär und an die jeweilige Umgebung angepasst.


Fazit: Digitalisierung braucht strategische Steuerung

Die Digitalisierung der Gesundheitsämter zeigt exemplarisch, wie staatliche Digitalisierungsprojekte trotz guter Absichten scheitern können, wenn Koordination, Standardisierung und Zielorientierung fehlen. Investitionen allein reichen nicht aus. Es braucht:

  • Verbindliche Standards für Schnittstellen und Datenmodelle
  • Governance-Strukturen, die Abstimmungen zwischen Ländern und Kommunen ermöglichen
  • Langfristig nutzbare, offene Softwarearchitekturen mit modularen Komponenten
  • Vermeidung von Redundanzen durch gezielte Bündelung von Entwicklungsvorhaben

Nur so lässt sich verhindern, dass Digitalisierung zu einem reinen Instrument der Technikbeschaffung verkommt – ohne strukturellen Nutzen. Die Gesundheitsämter sind ein warnendes Beispiel. Sie zeigen, was auf dem Spiel steht, wenn man Digitalisierung nicht vom Ziel her denkt.


Quelle:
Süddeutsche Zeitung, Artikel „Digitalisierung der Gesundheitsämter: Millionen für ein Software-Flickwerk“ von Tilman Steffen, 24. Juni 2025. (www.sueddeutsche.de)


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