Digitale Souveränität bleibt ein Lippenbekenntnis
Europas verpasste Chance mit Gaia-X
Man hört es auf jeder Digitalkonferenz, liest es in nahezu jeder europapolitischen Strategie und findet es in zahllosen Absichtserklärungen: Europa soll digital souverän werden. Gemeint ist damit die Fähigkeit, digitale Infrastrukturen und Technologien eigenständig, sicher und unabhängig von geopolitischen Rivalen zu betreiben.
Doch zwischen den Sonntagsreden und der Realität klafft eine gefährliche Lücke. Statt handfester Fortschritte gibt es vor allem symbolpolitische Rhetorik – und ein besonders deutliches Beispiel dafür ist das Projekt Gaia-X.
Der große Plan – und sein schneller Zerfall
Als Gaia-X 2019 vorgestellt wurde, klang das wie der Aufbruch in eine neue Ära. Eine europäische Cloud-Infrastruktur, die nicht nur den Datenschutz nach EU-Standards achtet, sondern auch echte Alternativen zu den marktbeherrschenden US-Plattformen schaffen sollte.
Ziel war es, viele Anbieter zu vernetzen, Interoperabilität zu fördern, Datenportabilität zu ermöglichen und die Abhängigkeit von Amazon, Microsoft und Google zu verringern. All das unter dem Banner europäischer Werte: Transparenz, Sicherheit, Rechtsstaatlichkeit.
Fünf Jahre später ist davon wenig geblieben. Statt eines digitalen Leuchtturmprojekts steht Gaia-X heute für einen ambitionierten Versuch, der politisch ausgebremst wurde. Zentrale Akteure wandten sich enttäuscht ab, wichtige Partner kooperierten wieder mit US-Konzernen. Der Rückzug des Open-Source-Pioniers Nextcloud war ein deutliches Warnsignal. In der IT-Branche gilt Gaia-X inzwischen als de facto gescheitert.
Fehlende Strategie – schwache Umsetzung
Das eigentliche Problem aber reicht tiefer. Es liegt in Europas struktureller Unfähigkeit, Digitalpolitik strategisch, konsistent und mit langem Atem zu betreiben. Es fehlt nicht an Ideen, sondern an Koordination, Finanzierung und klaren Prioritäten.
Die Mitgliedstaaten verfolgen unterschiedliche Interessen, nationale Egoismen verhindern gemeinsame Standards. Und die Wirtschaft? Sie entscheidet sich oft aus pragmatischen Gründen für US-Cloud-Dienste – sie sind sofort verfügbar, skalierbar und bewährt.
Ein wachsendes Risiko für Europas Datensouveränität
Über 100 Zettabyte an Daten sollen 2025 weltweit gespeichert sein – ein Großteil davon auf Servern unter US-Kontrolle. Und das ist kein abstraktes Szenario, sondern ein reales geopolitisches Risiko.
Seit dem US Cloud Act von 2018 sind amerikanische Behörden befugt, weltweit auf Daten ihrer Anbieter zuzugreifen – auch wenn diese physisch in Europa liegen. Für europäische Behörden, die solche Dienste nutzen, bedeutet das: Sie geben die Kontrolle über hochsensible Informationen an Dritte ab.
Selbst Cloud-Dienste, die als „europäisch“ vermarktet werden, sind oft technisch oder juristisch an US-Anbieter gebunden.
Neue Projekte, alte Abhängigkeiten
Mit Delos Cloud – einer SAP-Initiative in Kooperation mit Arvato – versucht Deutschland nun, eine eigene Verwaltung-Cloud zu etablieren. Die Bundesregierung steht hinter dem Projekt, Bundeskanzler Scholz persönlich wirbt dafür.
Doch die Kritik bleibt nicht aus. Die auf Delos laufende Software stammt ausgerechnet von Microsoft – einem Unternehmen, das selbst immer wieder Ziel von Hackerangriffen war und dem unter dem Cloud Act Datenzugriffe abverlangt werden können.
Die Open Source Business Alliance warnt vor digitalen Hintertüren und verweist auf reale Sicherheitsvorfälle, wie den Diebstahl des Master-Schlüssels von Microsoft Azure durch mutmaßlich chinesische Hacker im Jahr 2023.
Es gibt Alternativen – sie brauchen politischen Willen
Dabei existieren längst europäische Open-Source-Cloud-Anbieter, die nachweislich sicher sind, keine US-Verbindungen haben und auf Transparenz durch offenen Code setzen. Doch diese bleiben zu oft außen vor, weil es an politischem Rückhalt, finanzieller Förderung und strategischer Integration fehlt.
Was fehlt, ist nicht Technologie, sondern politischer Wille.
Fazit: Souveränität erfordert mehr als Schlagworte
Europa braucht endlich eine konsequente Digitalstrategie – nicht nur auf Papier, sondern in der Realität. Dazu gehören:
- gezielte Infrastrukturförderung für europäische Anbieter,
- klare Ausschreibungsregeln mit Fokus auf echte Souveränität,
- ein Investitionsrahmen, der Unabhängigkeit belohnt,
- und eine neue Form der Zusammenarbeit zwischen Staat und digitaler Zivilgesellschaft.
Gaia-X war ein Versuch. Ein neuer Anlauf müsste ehrlicher, entschlossener und kompromisslos europäisch sein. Denn digitale Souveränität ist keine rhetorische Figur – sie ist eine strategische Notwendigkeit.
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