Die geplante Reform des Bürgergeldes ist mehr als nur eine arbeitsmarktpolitische Korrektur – sie ist ein Lackmustest für die Modernisierungsfähigkeit des deutschen Sozialstaats. Denn die Kritik an fehlenden Arbeitsanreizen, überkomplexen Antragswegen und ineffizientem Ressourceneinsatz ist nicht neu. Neu ist hingegen, dass wir heute technologische Werkzeuge besitzen, die eine echte strukturelle Reform nicht nur denkbar, sondern machbar machen – allen voran: Künstliche Intelligenz (KI).

Der Status quo: Ein zersplittertes System mit Fehlanreizen

Wie der Münchner Ökonom Andreas Peichl in über 60 Reformvarianten nachgewiesen hat, funktioniert das heutige Bürgergeldsystem in vielen Fällen kontraproduktiv. Ein bekanntes Beispiel: Wer als Paar in München von 3.500 € auf 5.500 € Bruttoeinkommen aufstockt, hat netto kaum mehr, da Wohngeld und Kinderzuschlag entfallen – ein klassischer „Fehlanreiz“, der produktive Arbeit nicht belohnt, sondern neutralisiert [1].

Zudem herrscht ein Wirrwarr an parallel laufenden Leistungen: Bürgergeld, Wohngeld, Kinderzuschlag, Sozialversicherungen – beantragt bei verschiedenen Stellen, oft ohne digitale Schnittstellen. Die Konsequenz: hoher Verwaltungsaufwand, Intransparenz und Frustration bei den Antragstellern.


Die Rolle der KI: Vom Symptombekämpfer zum Systemgestalter

Hier kommt die KI ins Spiel. Nicht als abstraktes Technologieversprechen, sondern als ganz konkrete Lösungskomponente. Künstliche Intelligenz kann nicht nur Prozesse automatisieren, sondern strukturelle Logikdefizite aufdecken, Szenarien simulieren und dabei helfen, das System grundlegend neu zu ordnen. Einige konkrete Anwendungsfelder:

1. Automatisierte Sozialleistungsberatung für Bürger:innen

Mit KI-gestützten Assistenten (z. B. Chatbots auf Basis von GPT oder spezialisierten Agenten) ließen sich heute schon individuelle Beratungsgespräche digital abbilden – rund um die Uhr, in einfacher Sprache, mit automatischer Plausibilitätsprüfung.

Beispiel: Eine Familie kann per Chatbot ermitteln, auf welche Leistungen sie Anspruch hat – inklusive Vergleich verschiedener Szenarien (Teilzeit, Jobwechsel etc.). KI kann dabei auch gleich mögliche negative Interaktionen wie Wegfall von Zuschlägen mitrechnen.

2. Integration und Harmonisierung von Leistungen

Ein zentrales Problem ist die Zersplitterung der Leistungen. KI kann helfen, diese Leistungssysteme semantisch zu harmonisieren – also logisch miteinander zu verknüpfen. Mit sogenannten regelbasierten Expertensystemen lassen sich etwa Wohngeld, Kinderzuschlag und Bürgergeld rechnerisch integrieren, ohne sie administrativ gleichzuschalten. So entsteht ein virtuelles „Bürgergeld-Plus“, das alle relevanten Lebenslagen berücksichtigt – transparent, nachvollziehbar, digital abbildbar.

3. Simulation von Reformeffekten – datenbasiert und in Echtzeit

In den Gutachten von Peichl zeigt sich: Es gibt kein Reformmodell, das alle politischen Ziele gleichzeitig erfüllt. Aber mit KI lassen sich diese Zielkonflikte sichtbar machen und modellieren: Welche Variante führt zu mehr Beschäftigung? Welche kostet den Bund mehr, spart aber den Kommunen?

KI-gestützte Modellrechnungen ermöglichen diese Evaluation in Echtzeit – statt monate- oder jahrelanger Politikfolgenabschätzung. Ich kann politische Entscheidungen damit transparent machen – ein klarer Gewinn für Demokratie und Effizienz.


Mehr Anreize – aber mit digitaler Intelligenz

Andreas Peichl plädiert für eine Mischung aus „Zuckerbrot“ (mehr behalten vom Hinzuverdienst) und „Peitsche“ (stärkere Verpflichtung zur Arbeitsaufnahme). Das ist technisch längst umsetzbar – vorausgesetzt, die Sozialverwaltung wird digitalisiert.

Was wäre nötig?

  • Flexible Freibeträge: KI-Systeme könnten dynamische Hinzuverdienstgrenzen berechnen, die sich automatisch an regionale Mietkosten, Kinderzahl oder Arbeitsstunden anpassen.
  • Präventive Frühwarnsysteme: Durch Datenanalysen ließe sich frühzeitig erkennen, wer Gefahr läuft, in Dauertransferabhängigkeit zu geraten – und gezielt gegensteuern.
  • Manipulationsresistenz durch Automatisierung: Die 100 €-Grenze für anrechnungsfreies Einkommen führt häufig zu fragwürdigen Arbeitskonstellationen. KI kann Mustererkennung nutzen, um systematische Ausnutzung aufzudecken – z. B. auffällige Jobmeldungen immer am Monatsende.

Ein schlanker Staat ist ein digitaler Staat

Peichl hat Recht, wenn er sagt: Der deutsche Sozialstaat ist ein Sanierungsfall. Noch gravierender ist aber, dass niemand so genau weiß, wie viele Leistungen überhaupt existieren. Aktuelle KI-gestützte Auswertungen des ifo Instituts haben ergeben, dass es über 500 Sozialleistungen in Deutschland gibt – oft kaum genutzt, vielfach unbekannt und teils redundant [2].

Fazit: Der Weg zu einem modernen Sozialstaat führt über KI – und politischen Mut

Die Diskussion um die Reform des Bürgergeldes ist oft von Ideologie geprägt. Doch jenseits politischer Rhetorik zeigen sich die wahren Hebel in der Systemarchitektur. Künstliche Intelligenz bietet hier nicht nur punktuelle Entlastung, sondern kann strukturelle Effizienzrevolutionen ermöglichen:

  • durch bessere Daten,
  • durch nachvollziehbare Simulationen,
  • durch nutzerzentrierte digitale Schnittstellen,
  • und durch eine konsequente Vereinfachung der Logik.

Der Staat der Zukunft ist nicht nur schlanker – er ist auch intelligenter.  Allerdings: so wie er bisher strukturiert ist, mit Verwaltungsvorschriften und starren Prozessen, wird das nichts werden. Ob es je den Mut gibt, hier tiefgreifende Reformen auf den Weg zu bringen, ist fraglich.


Quellen:

[1] Süddeutsche Zeitung (2025): „Zuckerbrot und Peitsche“ – Interview mit Andreas Peichl.
https://www.sueddeutsche.de/politik/buergergeld-reform-merz-ifo-institut-szenarien-li.3281749

[2] Spiegel Online (2025): „Bürgergeld-Forscher Peichl warnt vor 500+ Sozialleistungen“.
https://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/buergergeld-ifo-forscher-andreas-peichl-kritisiert-wildwuchs-bei-staatlichen-hilfen-a-7482d771-caac-41c5-9ee3-bfb51ed4bed4

[3] ifo Institut (2025): Reformvarianten für ein nachhaltiges Transferentzugssystem in Deutschland.
https://www.ifo.de/DocDL/sd-2025-01-bloemer-peichl-bundestagswahl-transfersystem.pdf