Ein Essay auf Basis des neuen Globalen Ungleichheitsreports von Piketty et al.[1]

Es gibt Zahlen, die den Atem stocken lassen. Eine davon eröffnet den neuen globalen Ungleichheitsreport des World Inequality Lab. Die 56.000 reichsten Menschen der Welt – eine Gruppe, die bequem in ein einziges Fußballstadion passen würde – besitzen heute dreimal so viel Vermögen wie die gesamte ärmere Hälfte der Menschheit. Mehr als vier Milliarden Menschen stehen auf der anderen Seite dieser statistischen Waage. Die Vermögen dieser ultrareichen Minderheit wachsen seit Jahrzehnten mit rund acht Prozent jährlich, während die Vermögen der unteren Hälfte stagnieren oder deutlich langsamer zulegen.

Diese drastische Zahl ist kein medienwirksamer Ausrutscher. Sie markiert den Punkt, an dem Piketty, Stiglitz, Zucman und die vielen weiteren Forscherinnen und Forscher ansetzen: Ungleichheit ist nicht nur hoch, sie beschleunigt sich. Und sie bedroht gesellschaftlichen Zusammenhalt, wirtschaftliche Stabilität und die Fähigkeit von Demokratien, kollektive Zukunftsaufgaben zu lösen.

Doch was genau zeigen die Daten – und was lässt sich daraus wirklich ableiten?


1. Globale Ungleichheit: das neue Normal oder ein politisches Versagen?

Die Studie kommt zu einem unbequemen Befund: Die Globalisierung hat die Ungleichheit nicht automatisch verringert, wie viele Befürworter einst gehofft hatten. Zwar sind hunderte Millionen Menschen aus absoluter Armut entkommen, vor allem in Asien. Gleichzeitig aber hat sich eine Vermögenskonzentration herausgebildet, die historische Maßstäbe sprengt.

Die Kluft zwischen Arm und Reich lässt sich auf mehreren Ebenen beobachten:

  • Einkommen: In Nordamerika liegt das monatliche Pro-Kopf-Einkommen bei rund 3800 Euro, in Subsahara-Afrika bei 300 Euro.
  • Bildung: Ein Kind in Europa oder den USA erhält – gemessen an öffentlichen und privaten Ausgaben – etwa das 40-Fache dessen, was ein Kind in armen Weltregionen bekommt.
  • Vermögen: Das reichste 1 % besitzt fast weltweit mehr als die unteren 90 %.

Der Report argumentiert, Ungleichheit sei keine naturgegebene Folge von Märkten, sondern das Ergebnis von Politik: Steuerpolitik, Arbeitsmarktregulierung, Handel, Kapitalverkehr, Sozialstaat, Eigentumsrechte. Die Nachkriegsjahrzehnte zeigen, dass Länder mit progressiven Steuern, starkem Gesundheitssystem und öffentlicher Bildung sowohl wachsen als auch vergleichsweise egalitär sein konnten.


2. Der Klimawandel als Verstärker – und Beschleuniger – der Ungleichheit

Ein besonders brisanter Teil der Studie zeigt, wie eng Ungleichheit und Klimaschäden miteinander verwoben sind. Das reichste 1 % verursacht – allein durch Konsum – mehr Emissionen als die gesamte ärmere Hälfte. Werden die Emissionen der Unternehmen ihren Eigentümern zugerechnet, liegt der Anteil der Superreichen sogar bei rund 40 % der verursachten Klimaschäden, während die ärmere Hälfte auf nur 3 % kommt.

Hinzu kommt: Die Armen leiden am stärksten, da sie in Regionen wohnen, die von Überschwemmungen, Dürren und Hitzewellen besonders betroffen sind und ihnen Anpassungsmaßnahmen – Klimatisierung, Versicherungsschutz, Infrastruktur – fehlen.

Die Studie beschreibt dies als doppelte Ungerechtigkeit:
Diejenigen, die am wenigsten zum Problem beitragen, tragen die größten Lasten.


3. Pikettys Reformvorschläge: ambitioniert, gut begründet – aber politisch schwer durchsetzbar

Piketty und seine Mitautoren schlagen eine Reihe von Maßnahmen vor, um die Ungleichheit zu dämpfen. Die prominenteste ist eine globale Vermögensteuer von 3 % auf Vermögen ab 100 Millionen Dollar. Das würde jährlich rund 650 Milliarden Euro einbringen – etwa so viel, wie alle ärmeren Länder derzeit zusammen für Bildung ausgeben.

Weitere Vorschläge:

  • Begrenzung klimaschädlicher Investitionen und Regulierung besonders emissionsintensiven Luxuskonsums.
  • Stärkere Koordination internationaler Steuerpolitik.
  • Reform des globalen Finanzsystems, insbesondere der Stimmrechte im IWF.
  • Politische Anerkennung und Umverteilung unbezahlter Sorgearbeit, die überwiegend von Frauen getragen wird.

Die Argumentation der Forscher: Nur mit neuen, robusten Formen internationaler Kooperation lasse sich die Ungleichheit wirksam bremsen.


4. Eine kritische Einordnung: Warum gute Ideen zu kurz greifen können

Die Vorschläge sind ökonomisch gut begründet – und politisch hochproblematisch. Nicht, weil sie falsch wären, sondern weil sie an politische Grenzen stoßen.

a) Globale Vermögensteuer – ökonomisch sinnvoll, politisch unrealistisch?

Eine koordinierte weltweite Vermögensteuer wäre effizient: Sie würde Kapitalflucht begrenzen, Steuerschlupflöcher schließen und extreme Konzentrationen dämpfen. Doch die vergangenen Jahrzehnte zeigen:

  • Selbst in der EU wurde keine gemeinsame Vermögenssteuer vereinbart.
  • Die USA verfolgen strukturell gegensätzliche Steuerphilosophien.
  • Viele Länder konkurrieren weiterhin über niedrige Kapitalsteuern („race to the bottom“).

Die politische Realität spricht derzeit nicht für einen globalen Konsens, sondern für zunehmende geopolitische Fragmentierung.

b) Internationale Kooperation: Wunsch oder Zukunftsvision?

Reformen bei IWF und Weltbank wären tatsächlich sinnvoll – die Stimmrechte spiegeln die ökonomische Realität der Gegenwart kaum wider. Doch Staaten geben Macht ungern ab, vor allem jene, die vom Status quo profitieren. Das gilt besonders für die USA, aber auch für Europa und Japan.

c) Klima und Ungleichheit: Die Daten überzeugen, die Instrumente fehlen

Die Diagnose ist klar: Reiche sind Hauptverursacher, Arme Hauptbetroffene. Doch die vorgeschlagenen Maßnahmen – Regulierung von Luxuskonsum, Begrenzung bestimmter Investitionen – scheitern häufig an nationalen Interessen, Lobbydruck und globalen Wettbewerbslogiken. Eine Flugticketabgabe für Privatjets ist leichter gefordert als umgesetzt.

d) Sorgearbeit und Geschlechtergerechtigkeit: klare Daten, aber schwer zu quantifizieren

Dass Frauen weltweit etwa zehn Stunden mehr pro Woche arbeiten, wenn man Sorgearbeit einrechnet, ist unbestritten. Die politische Anerkennung dieser Arbeit ist jedoch verteilungspolitisch sensibel und institutionell komplex. Eine einfache Kennziffer wie die „Care-Arbeitsquote“ würde kaum den politischen Durchbruch bringen, den Piketty erwartet.


5. Die eigentliche Herausforderung: Ungleichheit im Zeitalter der Machtkonzentration

Piketti et al  weisen auf einen Punkt hin, der oft übersehen wird und die politische Blockade erklärt: Reichtum übersetzt sich zunehmend direkt in politischen Einfluss. In den USA investieren Milliardäre zweistellige Millionenbeträge in Wahlkämpfe; in Europa finanzieren die oberen zehn Prozent einen Großteil der Parteispenden. Mit Trump ist der Einfluss der sehr Reichen fast auf ein maximales Niveau gestiegen.

Ungleichheit ist daher nicht nur ein ökonomisches, sondern ein institutionelles Problem: Je größer die Vermögenskonzentration, desto schwieriger wird es, politische Entscheidungen gegen diese Konzentration durchzusetzen.


6. Was bleibt? Zwischen Aufklärung und Realismus

Der Report macht deutlich, wie tief die globalen Spaltungen inzwischen sind – sozial, ökologisch, politisch. Er zeigt aber auch, dass Ungleichheit kein Naturgesetz ist. Die Nachkriegsjahrzehnte in den USA und Europa belegen, dass politische Maßnahmen Ungleichheit reduzieren können.

Doch die heutige Situation ist komplexer:

  • Globalisierung hat Produktion und Kapitalmobilität verändert.
  • Demokratien stehen unter Druck durch Populismus und Fragmentierung.
  • Geopolitische Rivalitäten erschweren globale Lösungen.

Damit stehen wir vor einem Paradox: Noch nie waren Daten so klar. Noch nie war die Politik so blockiert.


Schlussgedanke

Piketty und seine Mitautoren liefern eine eindrucksvolle Diagnose und wichtige Impulse. Ihre Vorschläge sind nicht falsch – sie sind notwendig. Aber sie zeigen vor allem, dass nationale Politik allein nicht mehr ausreicht.

Gleichzeitig öffnet sich eine zweite Ebene, die in Pikettys Analyse zwar angelegt, aber nicht vollständig ausformuliert ist: Die Art und Weise, wie Vermögen in einer automatisierten, digitalisierten Ökonomie überhaupt entsteht. Wenn KI-Systeme Wertschöpfung beschleunigen, wenn Plattformen Daten in Produktivität übersetzen, wenn Tokenisierung und digitale Assets neue Eigentumsformen hervorbringen – dann verschiebt sich die Grundlogik der Verteilung. Arbeit allein kann diese Lücke nicht mehr schließen. Die zentrale Frage lautet daher nicht nur, wie wir bestehendes Vermögen umverteilen, sondern wie wir breite Bevölkerungsgruppen befähigen, an künftiger Wertschöpfung teilzuhaben.

Damit entsteht eine interessante Ergänzung zu Piketty: Ungleichheit muss politisch begrenzt werden – aber sie kann technologisch abgefedert werden. Der Staat kann die Regeln setzen, doch die digitale Ökonomie schafft erstmals Werkzeuge, mit denen Menschen unabhängig von Herkunft oder Einkommen Vermögen aufbauen können. Wenn das vielleicht für den einen oder anderen naiv erscheint, so muss darauf verwiesen werden, dass solche Lösungsansätze häufig technologisch begründbar sind.

Vielleicht liegt die Kraft der Studie daher nicht nur in ihren Rezepten, sondern in der Klarheit, mit der sie die Dringlichkeit einer doppelten Transformation sichtbar macht: einer politischen und einer technologischen. Die politische Transformation begrenzt die Extreme. Die technologische Transformation eröffnet neue Wege der Beteiligung.

Die Aufklärung des World Inequality Lab zwingt uns, die Welt zu sehen, wie sie ist. Die digitale Vermögensbildung zwingt uns, uns vorzustellen, wie sie sein könnte. Erst aus dieser Verbindung entsteht die Möglichkeit, Ungleichheit nicht nur zu messen oder zu kritisieren, sondern sie – vielleicht zum ersten Mal seit Jahrzehnten – strukturell abzuschwächen.


[1] World Inequality Report 2026, World Inequality Lab (2025)