Es gehört inzwischen fast zur politischen Folklore in Deutschland: Wenn es um die Zukunft des Sozialstaats geht, dominieren markige Sprüche und parteipolitische Reflexe. Der Kanzler hat kürzlich betont, der Sozialstaat sei „nicht mehr finanzierbar“. Natürlich ist das übertrieben – Deutschland bricht nicht morgen unter der Last seiner Sozialausgaben zusammen. Doch die Sorge ist real, und die Zahlen sind eindeutig: Die Sozialquote – also der Anteil der Sozialausgaben am Bruttoinlandsprodukt – liegt heute bei über 31 % und damit auf einem historischen Höchststand (BMAS, Sozialbudget 2023).

Die Debatte dreht sich also nicht um die Frage, ob wir uns einen Sozialstaat leisten können, sondern darum, wie wir ihn finanzierbar halten. Die entscheidenden Baustellen der nächsten Jahre sind klar: Rente und Krankenversicherung. Wer hier nicht handelt, riskiert, dass der Sozialstaat langfristig an Legitimität und Tragfähigkeit verliert.


Der Sozialstaat wächst – aber nicht gleichmäßig

Ein Blick auf die letzten Jahrzehnte zeigt: Die größten Zuwächse gab es nicht bei Rente oder Krankenkassen, sondern in der Familienpolitik. Vor allem die Kinder- und Jugendhilfe hat sich seit den frühen 1990er-Jahren mehr als verfünffacht – deutlich stärker als das Wirtschaftswachstum im selben Zeitraum (Sozialpolitik Aktuell, Uni Duisburg-Essen). Ursachen sind u. a. der massive Ausbau von Kita-Plätzen und Leistungen wie Elterngeld.

Das Bürgergeld dagegen spielt in der Kostendynamik kaum eine Rolle: Es macht nur etwa 1,4 % des BIP aus und liegt damit sogar unter dem Niveau von Anfang der 2000er-Jahre (Quelle: Süddeutsche Zeitung vom 27.08.25 S. 2)..


Rente: Die tickende Zeitbombe

Die Rentenversicherung basiert auf einem Umlagesystem: Beitragszahler finanzieren die heutigen Rentner. Mit den Babyboomern, die in den Ruhestand gehen, kippt das Verhältnis. Schon heute fließen fast 100 Milliarden Euro jährlich aus dem Bundeshaushalt als Zuschuss in die Rentenkasse (BMAS, Sozialbudget 2023).

Die Politik hat trotz klarer Warnungen Leistungen ausgeweitet – etwa durch die sogenannte Mütterrente. Reformvorschläge liegen längst auf dem Tisch: Der Sachverständigenrat empfiehlt u. a. eine Anhebung des Renteneintrittsalters entsprechend der Lebenserwartung[1].


Krankenkassen: Teuer, ineffizient, unausweichlich

Noch deutlicher ist die Schieflage bei den gesetzlichen Krankenkassen. Prognosen zeigen, dass die Sozialabgaben ohne Reformen bis 2035 auf knapp 50 % der Bruttolöhne steigen könnten[2]. Arbeitgeber und Arbeitnehmer würden dann gleichermaßen belastet – mit Folgen für Nettoeinkommen und Arbeitskosten.

Zugleich steigen die Steuerzuschüsse: Laut der Denkfabrik Dezernat Zukunft könnten bis 2035 fast 40 % des Bundeshaushalts für Sozialtransfers gebunden sein[3].

Das Problem ist nicht allein Demografie. Das deutsche Gesundheitssystem gilt im internationalen Vergleich als ineffizient: zu viele Krankenhausaufenthalte, zu viele Arztbesuche, zu langsame Digitalisierung.


SPD und Union – das Spiel der Ausreden

Die SPD verweist gern darauf, dass der Sozialstaat finanzierbar bleibt – was formal stimmt. Aber sie verschweigt, dass „finanzierbar“ bedeutet: immer höhere Beiträge, immer mehr Steuermilliarden, immer weniger Spielraum für Investitionen in Bildung, Infrastruktur oder Digitalisierung. Die Union warnt zwar lautstark, hat aber selbst in Regierungszeiten selten den Mut gehabt, unpopuläre Einschnitte vorzunehmen.


Schmerzliche Einschnitte – aber notwendig

Die nüchterne Wahrheit: Wenn wir das System retten wollen, brauchen wir Reformen, die wehtun.

  1. Rente
    • Lebensarbeitszeit schrittweise an die Lebenserwartung koppeln.
    • Rentenniveau langfristig dämpfen.
    • Kapitalgedeckte Vorsorge stärker einbinden, aber reguliert und transparent.
  2. Krankenkassen
    • Krankenhauslandschaft umbauen: weniger Betten, mehr ambulante Versorgung.
    • Digitale Prozesse und Effizienzgewinne forcieren.
    • Eigenanteile sozial gestaffelt überdenken, um Belastungen gerechter zu verteilen.

Unpopulär, ja. Aber die Alternative wäre schlimmer: ein System, das immer teurer wird und dadurch die Grundlage des Sozialstaats untergräbt.


Fazit: Mut zur Ehrlichkeit

Der deutsche Sozialstaat ist eine große Errungenschaft. Aber er darf nicht zum Mühlstein werden, der unsere wirtschaftliche Zukunft erdrückt. Es sind nicht Bürgergeld oder Einzelprogramme, die den Ausschlag geben, sondern die strukturellen Fragen von Rente und Krankenversicherung.

Die Kanzler-Worte mögen zugespitzt sein, doch sie haben den Finger in die Wunde gelegt. Es wird Zeit, ehrlich zu sein: Ohne Einschnitte verliert der Sozialstaat an Stabilität. Mit Mut zu Reformen dagegen bleibt er das, was er sein soll – ein Garant für Sicherheit, ohne die Substanz von morgen zu verspielen.



[1] https://www.sachverstaendigenrat-wirtschaft.de/publikationen/jahresgutachten.html

[2] https://www.iges.com/kunden/gesundheit/forschungsergebnisse/2025/update-entwicklung-der-sozialabgaben/index_ger

[3]. https://dezernatzukunft.org/wp-content/uploads/2025/06/Schuster-Johnson_Sigl-Gloeckner-2025-Nur-3-Prozent-Spielraum.pdf